Dienstag, 3. April 2012

Wollen Sie so leben?!

Der folgende Text ist der website http://bloxx.biz/ivs_wien/wollen-sie-so-leben/ entnommen:



Wollen Sie so leben?


Menschliches Leben ist fragil, brüchig. Es gibt viele Lebensereignisse, die dazu führen können, dass ich zu einer Behinderung komme. Bei hohem Betreuungsbedarf ab – sagen wir – der Pflegestufe 6, würde mir, nach meiner Einschätzung der Lage, wie soziale Dienste in Wien organisiert sind, folgendes bevorstehen:
Meine Lebenspartnerin würde, wenn ich Glück hätte, weiter mit mir leben wollen, aber sie würde mich nicht, und da stimme ich ihr völlig zu, ein halbes Leben lang rund um die Uhr pflegen wollen. Sie würde vielleicht die Sachwalterschaft übernehmen, um mir die Scherereien mit schlechten SachwalterInnen zu ersparen. Ohne Erwerbstätigkeit, ohne erhöhte Familienbeihilfe, mit unterdurchschnittlicher Pension reicht auch das Pflegegeld nicht für eine ausreichende Alltagsassistenz und Pflege.
Ich warte also nach abgeschlossener Rehabilitation in einem Pflegeheim ein halbes Jahr oder länger auf einen vollbetreuten Wohnplatz. Ich ziehe in eine Wohngemeinschaft ein, wo ich zwölf andere Personen treffe, die ich nicht kenne und mit denen ich jetzt, Haut an Haut, unter einem Dach lebe. Die verbleibenden, vielleicht 20 Jahre meines Lebens (Gott sei Dank bin ich schon 50!) lebe ich in einem Zimmer mit 14 qm, teile den Gemeinschaftstraum mit den zwölf anderen und den Sanitärraum mit drei anderen, mir fremden Personen. Ich kann nicht jeden Tag duschen, weil das geht sich bei dem BetreuerInnenschlüssel beim besten Willen nicht aus.
Ich kann beim Speiseplan mitbestimmen, d.h. 5-7 mal im Monat (!) entspricht das angebotene Essen meinen Ernährungsgewohnheiten. Es kommt fast täglich zu Lärmbelästigungen, zu Streit, zu Konflikten unter MitbewohnerInnen, die ich zumindest passiv miterleben muss. Einige BewohnerInnen äußern sich auch aggressiv. Ich erlebe regelmäßig Aggressionen, auch gegen mich. Die BetreuerInnen schützen mich gut vor tätlicher Gewalt, dennoch fürchte ich mich vor der Bedrohung, dass das doch eines Tages nicht ausreichen könnte. Nächtliche Ruhestörungen gibt es mehrmals wöchentlich, weil MitbewohnerInnen nicht schlafen können, herumgeistern und Lärm machen.
Meine LebenspartnerIn trennt sich vielleicht nun doch von mir und führt fortan ein anderes Leben. Damit fehlt mir eine wichtige Unterstützung, vor allem meine Mobilitätshilfe, wenn ich unterwegs sein will. Ich habe nur ein geringes sogenanntes Taschengeld aus Pflegegeld und Mindestpension von knapp 160 €. Den Rest meines Einkommens geht für den Kostenersatz an den FSW drauf (bis auf die 13. und 14. Pensionszahlung).  Das Geld brauche ich für Selbstbehalte bei Hilfsmitteln, für notwendige Physiotherapie, Fahrtendienst, Telefon, hin und wieder Kleidung, Dinge des täglichen Bedarfes. Ich habe kein Geld für einen Besuchsdienst, kein Geld für Kino, Theater, Konzerte. Für VHS-Kurse fehlt mir die Assistenz. Ich brauche Begleitung für jeden Weg raus aus der WG. Mein Bezugsbetreuer kann mir vier Stunden im Monat geben. Aber die gehen oft schon für Arztbegleitungen drauf. D.h., wenn ich frische Luft brauche, kann ich mich nur auf die Terrasse stellen. Das geht vielen meiner MitbewohnerInnen genauso, d.h. wir hocken, ja wir picken aufeinander.
Wenn ich in meinem Zimmer bin, weil ich die Dichte und Unruhe in der WG nicht aushalte, fällt mir die Decke auf den Kopf.
Werktags gehe ich dafür in eine Tagesstruktur, wo ich andere Menschen mit Behinderung treffe und Beschäftigung für uns organisiert wird, für die ich aber außer einem lächerlichen Taschengeld von 40 Euro kein Geld bekomme. Wenn ich Pech habe, zahle ich auch noch einen Kostenbeitrag für diese Art der Behinderten(selbst-)beschäftigung. Ich kann zwei Wochen Urlaub im Jahr machen. Wegfahren kann ich nicht, ich kann mir die Assistenz nicht leisten. Aber ich kann zwei Wochen kostenfrei in der WG bleiben, da wo mir die Decke auf den Kopf fällt. Tagesbetreuung werktags wird nämlich nicht finanziert in einer vollbetreuten WG.
Meine geistigen Einschränkungen sind nicht so groß, dass ich nicht die Chancenlosigkeit meiner Lage begreifen würde. Ich bin abgeschoben, werde in Armut gehalten, verkümmere geistig, kulturell und gesundheitlich, weil mir Bewegung, Tapetenwechsel und Begegnungen fehlen (abgesehen von mangelnder Therapie). Und um mich herum täglich Menschen, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes kennen gelernt haben.
Menschliches Leben ist fragil und brüchig. Aber so will ich nicht leben. Ich muss mich bisher – als sogenannter Sonder- und Heilpägagoge – nur jeden Arbeitstag damit beschäftigen, dass Menschen so leben müssen. Es gibt „neuerdings“ Menschenrechte für Menschen mit Behinderung. Die gab‘s auch schon vorher.
Politische EntscheidungsträgerInnen müssen endlich kapieren, dass Menschen mit Behinderung tatsächlich BürgerInnenrechte haben, dass es für ein Leben als BürgerIn soziale Dienste für BürgerInnen braucht, dass die Dienste an den Ort kommen müssen, wo BürgerInnen mit BürgerInnen leben.
Und überlebenswichtig: jede/r BürgerIn muss sich diese Dienste auch leisten können, um am BürgerInnenleben teilnehmen zu können. Weiters wichtig: Dienstleistungen für Menschen stellen eine Wertschöpfung dar, die ökonomisch und zivilgesellschaftlich wert ist, gefördert ind abgesichert zu werden.
Dass PolitikerInnen die Problematik kapieren, heißt noch lange nicht, dass sie fähig wären zu handeln. Es braucht klare Worte: Menschen mit Behinderung müssen öffentlich Menschenrechtsverletzungen anklagen und ihre Rechte einklagen.
Dafür brauchen sie aber Mitsprachemöglichkeiten. Diese Mitsprachemöglichkeiten brauchen aber wieder persönliche Unterstützung. Und genau die wird auch wieder verwehrt. Aber das ist wieder eine andere Geschichte!
Ein "schiaches" Szenario, oder? Aber leider oftmals traurige Wirklichkeit ...

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