Ich bin das Kind, das nicht sprechen kann
Ich bin das Kind, das nicht sprechen kann. Oft bemitleidet Ihr mich. Das sehe ich an Euren Augen. Ihr fragt Euch, wie viel ich wahrnehme … auch das sehe ich. Ich bemerke viel … ob Ihr glücklich seid oder traurig, ängstlich, geduldig oder ungeduldig, voller Liebe und Hingabe, oder ob Ihr nur Eure Pflicht für mich tut. Ich wundere mich über Eure Enttäuschung, da ich doch weiß, dass die meine noch viel größer ist, ich kann mich selbst und meine Bedürfnisse nicht so zum Ausdruck bringen, wie Ihr das könnt.
Manchmal ist meine Einsamkeit so groß, dass Ihr sie nicht erfassen könnt. Ich beschenke Euch nicht durch kluge Gespräche, scharfsinnige Bemerkungen über die man lacht und die man weiter erzählt. Ich gebe Euch keine Antwort auf Eure alltäglichen Fragen, ich gebe keine Bestätigung meines Wohlbefindens, ich lasse Euch nicht an meinen Bedürfnissen teilhaben oder mache Bemerkungen über die Welt um mich herum. Ich gebe Euch nicht den Grad an Anerkennung wie ansonsten die Welt ihn festzulegen scheint… große Entwicklungssprünge, die Ihr als Euren Verdienst bezeichnen könnt.
Ich bringe Euch nicht das Verständnis entgegen, wie Ihr es kennt. Was ich euch gebe, ist um vielfaches wertvoller… ich schenke Euch stattdessen Chancen. Die Chancen, die Tiefe Eures Wesens und nicht die des meinigen, die Tiefe Eurer Liebe, Euer Mitgefühl, Eure Geduld, Eure Fähigkeit zu entdecken. Die Chance, Eure Seele tiefer zu erforschen als Ihr es je für möglich hieltet. Ich bringe Euch weiter als Ihr es je alleine tätet, indem Ihr härter arbeitet und Antworten auf Eure vielen Fragen sucht und Fragen ohne Antworten stellt. Ich bin das Kind, das nicht sprechen kann.
So manches Mal scheint die Welt an mir vorüber zu gehen. Ihr bemerkt meine Sehnsucht, mich aus dem Sessel zu heben, zu laufen und zu spielen wie andere Kinder auch. Es gibt vieles, was Ihr für selbstverständlich haltet.
Ich möchte das Spielzeug aus dem Regal. Ich muss auf die Toilette,… oh, ich habe meine Gabel schon wieder fallen lassen. In diesen Dingen bin ich von Euch abhängig. Mein Geschenk an Euch besteht darin, Euch Euer Glück bewusst zu machen: ein gesunder Rücken und gesunde Füße, die Fähigkeit für Euch zu sorgen. Manchmal scheinen die Menschen dies nicht zu bemerken; ich bemerke sie immer.
Was ich empfinde, ist nicht so sehr der Neid, sondern die Sehnsucht, die Sehnsucht danach, aufrecht zu stehen, einen Fuß vor den anderen zu setzten, unabhängig zu sein. Ich schenke Euch das Bewusstsein dafür.
Ich bin das Kind, das geistig benachteiligt ist. Es fällt mir schwer, zu lernen, wenn Ihr mich nach den Maßstäben dieser Welt beurteilt. Sehr wohl weiß ich um die unendliche Freude an den einfachen Dingen. Ich trage nicht Eure Last eines soviel komplizierteren Lebens voller Streit und Auseinandersetzungen. Mein Geschenk an Euch ist, Euch die Freiheit zu geben, sich der Dinge wie ein Kind zu erfreuen, Euch zu lehren, wie viel es mir bedeutet, Eure Arme um mich zu spüren, Euch Liebe zu schenken. Ich schenke Euch die Gabe der Einfachheit. Ich bin das Kind, das geistig benachteiligt ist.
Ich bin das behinderte Kind. Ich bin Euer Lehrer. Wenn Ihr es mir erlaubt, lehre ich Euch die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Ich werde Euch bedingungslose Liebe schenken und lehren. Ich beschenke Euch durch mein unvoreingenommenes Vertrauen, durch meine Abhängigkeit von Euch. Ich lehre Euch die Achtung vor den Anderen und ihrer Einzigartigkeit. Ich zeige Euch, wie heilig das Leben ist. Ich zeige Euch, dass dieses Leben außerordentlich wertvoll ist und, dass nichts selbstverständlich ist. Ich lehre Euch, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Träume außer Acht zu lassen. Ich lehre Euch, zu geben.
Vor allen Dingen jedoch lehre ich Euch Hoffnung und Vertrauen.
Ich bin nicht nur das behinderte Kind - sondern ich bin ich!
(Verfasser unbekannt - entnommen aus dem Rett-Syndrom-Handbuch von Kathy Hunter)
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